Selbststeuerung statt Selbstoptimierung
Warum die Zukunft nicht nach schnelleren, sondern nach bewussteren Menschen ruft – und wie HR lernen kann, innere Prozesse zu messen statt nur Leistung.
von Simone Unger | DTH mag | Ausgabe 4/2025
Zitierhinweis: Bei Verwendung bitte Quelle angeben: „DTH mag – Ausgabe 4/2025“
Selbstoptimierung macht Menschen effizienter, aber nicht stabiler. In komplexen Systemen entscheidet nicht Tempo, sondern Selbststeuerung: die Fähigkeit, innere Zustände zu regulieren, bewusst zu entscheiden und handlungsfähig zu bleiben – auch unter Druck. Dieser Artikel zeigt, warum das für HR der Gamechanger ist, wie man Selbststeuerung erkennt und fördert, und wie aus „Soft Skills“ harte Kennzahlen werden.
1) Das Problem mit der Selbstoptimierung
Selbstoptimierung verspricht mehr Output in weniger Zeit. In dynamischen Umfeldern führt sie jedoch oft zu drei Nebenwirkungen:
- Reaktivität statt Klarheit: Menschen arbeiten schneller – aber aus Stress, nicht aus Fokus.
- Kurzfristige Spitzen, langfristige Einbrüche: Leistung schwankt, Teams ermüden.
- Tarnkappe für echte Themen: Konflikte, Überforderung, Sinnfragen werden „wegoptimiert“ – nicht gelöst.
Kernaussage: Unternehmen brauchen keine „besseren Hamsterräder“, sondern Menschen, die den Strom steuern: Selbststeuerung statt Selbstoptimierung.
2) Was Selbststeuerung wirklich bedeutet
Selbststeuerung = innere Zustände wahrnehmen, regulieren und in stimmige Handlung übersetzen.
Sie verbindet drei Ebenen:
- Regulation: Nervensystem beruhigen, Spannungen abbauen, Präsenz herstellen.
- Reflexion: Muster erkennen, Bedeutung zuordnen, Optionen sehen.
- Integration: Entscheidung treffen, stimmig handeln, Erfahrung abspeichern.
Praktisch heißt das: Jemand bleibt bei Gegenwind arbeitsfähig, klärt Konflikte früh und priorisiert sinnvoll – ohne dauerhaft Führung zu „verbrauchen“.
3) Warum das für HR jetzt geschäftskritisch ist
Komplexe Systeme brauchen stabile Selbstführung statt permanenter Steuerung von außen. Für HR verändert das drei Felder:
a) Recruiting & Onboarding
- Frühes Erkennen von Selbststeuerungs-Signalen (Umgang mit Ambiguität, Feedback-Fähigkeit, Priorisierung).
- Onboarding als Regulations-Training (Routinen, Klarheitsformate, Erwartungsmanagement).
b) Learning & Development
- Weg von „mehr Content“, hin zu erlebter Kompetenz (Übungsformate, begleitete Reflexion, Transfer).
- Programme werden wirksam, wenn sie Regulation → Reflexion → Handlung abbilden.
c) Führung & Kultur
- Führung entlastet, wenn Teams sich vorregulieren können.
- Psychologische Sicherheit wird KPI-fähig (siehe Abschnitt 6).
4) Woran Sie Selbststeuerung erkennen (ohne Fragebogen)
In Meetings:
- Klare Sprache, kurze Schleifen, Fähigkeit, Spannung zu benennen („Ich merke Widerstand – was fehlt?“).
- Priorisierung nach Wirkung, nicht nach Lautstärke.
Im Alltag:
- Proaktive Klärung statt Rückzug oder Eskalation.
- Lernschleifen: „Was nehme ich mit? Was ändere ich nächste Woche?“
Unter Druck:
- Tempo runter, Klarheit rauf.
- Erst Stabilisierung, dann Entscheidung (kein Aktionismus).
Quick Check (Team):
- Werden Spannungen ausgesprochen?
- Gibt es Nach-Reflexion (5–10 Min. nach wichtigen Terminen)?
- Werden Rollen und Erwartungen regelmäßig abgeglichen?
5) Wie HR Selbststeuerung systematisch fördert
1. Mikro-Routinen etablieren
- 90-Sekunden-Reset vor heiklen Gesprächen (Atmung, Körperhaltungswechsel, Zielsatz).
- „Check-In/Check-Out“: Stimmung & Fokus zu Beginn/Ende jeder Woche.
2. Gesprächsführungen umstellen
- Von „Bewerten“ zu „Beobachten & Benennen“.
- Leitfragen: Was hast du wahrgenommen? Was hat dich getriggert? Welche Option fühlt sich stimmig & wirksam an?
3. Lernformate umbauen
- 60 % Übung / 30 % Reflexion / 10 % Theorie.
- Live-Simulationen (Rollenspiele, szenische Dialoge) statt reine Folien.
4. Kohärenz spiegeln
- Regelmäßig prüfen: Passt Rolle ↔ Stärken ↔ Verantwortungsrahmen?
- Widersprüche sichtbar machen (z. B. Verantwortung ohne Befugnis) und gezielt abbauen.
6) Von „Soft“ zu „hart“: Welche Kennzahlen wirklich zählen
Frühindikatoren (Leading Indicators):
- Meeting-Qualität (Entscheidungsquote/Meeting, Klärungsquote von Spannungen).
- „Time-to-Clarity“ (Zeit bis zur geteilten Problembeschreibung).
- psychologische Sicherheit (standardisierte Kurzskalen, z. B. 5-Punkte-Check alle 4 Wochen).
Ergebnisindikatoren (Lagging Indicators):
- Produktivitäts-Stabilität (Varianz der Leistung statt nur Durchschnitt).
- Fluktuationsneigung / interne Mobilität.
- Krankheitsquote stressbezogen / Fehlzeiten nach belastenden Phasen.
Interpretation: Ziel ist robuste Konstanz (geringe Varianz, hohe Verlässlichkeit), nicht kurzfristige Peaks.
7) Selbststeuerung in der Praxis: drei Use Cases
Use Case 1 – Feedbackgespräch, das sonst eskaliert
- Vorab 2 Min. Regulation (Atmung + Zielsatz).
- Gesprächsstruktur: Beobachtung → Wirkung → Bedürfnis → Vereinbarung.
- Nach 7 Tagen Mini-Review (Was hat funktioniert? Was hat gefehlt?).
Ergebnis: weniger Abwehr, schnellere Einigung, klarer nächster Schritt.
Use Case 2 – Team in Dauerstress
- Wöchentlicher 15-Min. Kohärenz-Check (Workload, Klarheit, Abhängigkeiten).
- „Stop-Doing“ Liste: eine Sache pro Woche bewusst beenden.
Ergebnis: spürbare Entlastung, weniger Kontextwechsel, mehr Verbindlichkeit.
Use Case 3 – Change-Projekt festgefahren
- Erst „gemeinsame Landkarte“: Was ist Fakt? Was ist Interpretation?
- Dann Entscheidungsformat: 3 Optionen, 1 Entscheidung, 1 Review-Termin.
Ergebnis: weg von endlosen Debatten, hin zu iterativer Bewegung.
8) Einwände aus der Praxis – kurz & ehrlich beantwortet
„Dafür haben wir keine Zeit.“
Dann fehlt genau das, was Zeit schafft: Klarheit & Priorisierung. Selbststeuerung reduziert Reibung und spart Meetings.
„Das ist zu soft.“
Selbststeuerung ist ein Leistungsfaktor. Sie senkt Fehlzeiten, Konfliktkosten, Projektverzögerungen – und stabilisiert Output.
„Unsere Leute sind schon gut.“
Perfekt. Dann heben Sie den Engpass: Konstanz unter Druck. Das ist der Unterschied zwischen Talent und Professionalität.
„Kann man das messen?“
Ja – über Frühindikatoren (Klarheits-/Entscheidungsquoten, psychologische Sicherheit) und harte Effekte (Fehlzeiten, Fluktuation, Liefertermintreue).
9) So starten Sie nächste Woche (90-Tage-Plan light)
Woche 1–2: Sichtbar machen
- 15-Min. Team-Check-in (Stimmung, Klarheit, Blocker).
- Zwei Meetings pro Woche mit klarer Entscheidung beenden.
Woche 3–6: Üben & spiegeln
- Ein schwieriges Gespräch pro Woche bewusst führen (Struktur siehe Use Case 1).
- Nach jedem Termin 5-Min. Lernnotiz: Was habe ich reguliert? Was habe ich verstanden?
Woche 7–12: Metriken tracken
- Ein Leading-Indicator auswählen (z. B. Entscheidungsquote).
- Ein Lagging-Indicator auswählen (z. B. Fehlzeiten) → Verlauf beobachten.
10) Rolle von ColorFlowCycle™ & EDPlay™ (konkret, ohne Hype)
- ColorFlowCycle™ (CFC) macht innere Bewegungen sichtbar: Wo stehen Personen/Teams im Zyklus (Reaktivität → Regulation → Reflexion → Integration/Flow)? Welche Intervention hilft jetzt?
- EDPlay™ trainiert die Handlungskompetenz live: Emotionen erkennen, Spannung regulieren, Gespräch führen, Entscheidung treffen. Direkt im Rollenspiel – mit Transfer in den Alltag.
Kurz:
- CFC = Orientierung & Messpunkt
- EDPlay = Training & Umsetzung
11) Fazit
Selbstoptimierung dreht das Rad schneller. Selbststeuerung sorgt dafür, dass es in die richtige Richtung läuft – stabil, klar und menschlich. Für HR ist das die Chance, Entwicklung vom Bauchgefühl zur steuerbaren Kompetenz zu machen. Wo Selbststeuerung wächst, steigen Produktivität, Qualität und Gesundheit gemeinsam.
Der ColorFlowCycle™ für HR. Entwicklung sichtbar machen – dort, wo Wandel beginnt. Mehr erfahren →Weiterführende Literatur
- Siegel, D. J. (2010): The Mindful Brain – Reflection and Attunement in the Cultivation of Well-Being.
- Damasio, A. (1999): The Feeling of What Happens – Body and Emotion in the Making of Consciousness.
